TextArt
Tanz der Farben:
Keriac's Vermächtnis
Alles, was du dir vorstellen kannst, kannst du dir auch erschaffen. Das wußte ich. Mein größte Wunsch war es,
zu tanzen.
Während meiner Ausbildung zur Performance-Tänzerin bei der begnadeten Tanzpädagogin und Choreographin
Keriac
hatte ich einen Unfall erlitten, der mich die darauf folgenden fünfzehn Jahre immer wieder kehrend halbseitengelähmt
zurücklies. Nach drei Monaten war ich von der Schulmedizin aufgegeben worden. Die Lähmungen seien unbekannter
Ursache und therapieresistent. Rollstuhl und Morphium sei meine Zukunft, wurde mir gesagt. Je schneller ich mich
damit abfände, desto besser.
Genau das tat ich nicht. Ich wollte wieder tanzen. Und ich wußte, daß ich wieder tanzen werde. Ohne
jeden Zweifel.
Ich war auf mich selbst gestellt. Während mein Körper oft wochen-, sogar monatelang ans Bett gefesselt war und ich
unter unvorstellbaren Schmerzen litt, verlieh ich meinem Geist Flügel. Ich stellte mir vor, wie ich tanzte.
Das Gefühl von Lebensfreude, Glück, Kraft, Leichtigkeit und Einssein, das ich während meiner Tanzausbildung so sehr
genossen hatte, rief ich mir ins Gedächtnis zurück. Fast täglich. Ich sah mich in meiner Vorstellung tanzen.
In den Phasen, in denen es mir besser ging, tanzte ich mit der Pastellkreide in der Hand auf dem Papier. So erschuf
ich meine Serie
Venustänze
.
Innerhalb weniger Monate entstanden diese
Auraportraits
, wie ich sie auch nenne. Dreißig, vielleicht vierzig Werke
umfaßte diese Serie. Die meisten davon sind heute verschollen, eine ganze Reihe wurde mir bei einem Einbruch in
mein Atelier Mitte der Neunziger Jahre geraubt.
Die
Venustänze
waren der Beginn meiner effektiven Eigentherapie. Was damals außer mir keiner glaubte und später
als medizinisches Wunder bezeichnet wurde, war in Wahrheit eine Kombination aus unerschütterlichem Selbstvertrauen,
Gottvertrauen, mentaler Disziplin, Vorstellungskraft und Beharrlichkeit.
All das Glück, all die Freude, die ich beim Tanzen empfunden hatte, projizierte ich nun in meine
Venustänze
hinein.
Ich besuchte diese andere Realität, Er-Innner-ung genannt, und erschuf diese in meinem Geist immer wieder neu.
Während des Malens begab ich mich voll und ganz in das Gefühl hinein, tatsächlich zu tanzen. Realität und
Imagination verschmolzen zu einer Einheit. Schritt für Schritt, nach unzähligen Rückfällen, manifestierte
sich diese Realität für mich erneut, aus der Imagination wurde Realität.
Heute tanze ich wieder. Nicht nur mit der Pastellkreide auf dem Papier. Aber häufig auch während des Malens.
Wie Phönix aus der Asche tanzend.
Diese Fähigkeit, die Selbstheilungskräfte zu aktivieren und zu verstärken, habe ich immer weiter entwickelt.
Bald kamen Menschen zu mir, die ihren ganz persönlichen Venustanz, ihr eigenes
Auraportrait
gemalt haben wollten.
"Male meine Schmerzen weg", brachte es eine Klientin auf den Punkt.
Ich wußte nur zu gut, daß ein Kämpfen gegen den Schmerz diesen nur verstärkte. Liebendes Annehmen war das große
Zauberwort - und dann zu transformieren in der Bewegung, in der Farbe.
Irgendwann ergab sich daraus, daß ich mein Wissen und meine Erfahrung in Kursen weitergab an Interessierte.
Zunächst einige Jahre für Patienten in einer Rehaklinik; mittlerweile gebe ich hauptsächlich Einzelunterricht
in
.
Meine frühere Tanzlehrerin
Keriac
, auch bekannt unter dem Namen
Frances Jean Lambert
, mit der ich auch nach
dem ungewollten Ende meiner Tanzausbildung freundschaftlich verbunden geblieben war, sagte mir, die
Venustänze
seien choreographische Glyphen. Jedes Gemälde sei ein Tanz für sich.
Ich war überrascht, denn mit den choreographischen Glyphen hatte ich mich niemals befaßt. Wie war ich an dieses
Wissen herangekommen, noch dazu, ohne es zu beabsichtigen? Hatte ich mal wieder auf mein Akashapotential
zurückgegriffen, ohne es selbst zu merken?
Keriac
bat mich, sich einige meiner
Venustänze
ausleihen zu dürfen. Sie wollte diese choreographischen Glyphen
umsetzen, tanzen, und - auf die Bühne bringen.
Dies empfand ich als große Ehre. Klar, sagte ich sofort zu.
Keriac
suchte sich einige Werke aus, die sie mitnahm. Und, ganz die Tanzpädagogin, stellte sie Bedingungen:
Ich müßte bei der Aufführung die getanzten Gemälde ausstellen. Und ich müßte nach jedem Tanz, den sie und
ihre Partnerin
Donna Perilli
auf der Bühne aufgeführt hätten, dem Publikum zeigen, welches meiner Werke da
soeben zur Tanzaufführung gekommen war.
Und ich dürfte mich bis zur Aufführung nicht ihrem Tanzstudio nähern. Schon gar nicht während der
Trainingszeiten.
Keriac
wußte, was sie tat.
Klar war ich einverstanden. Dies war ein spannendes Experiment. Ich war sehr aufgeregt.
Als der Tag der Tanzaufführung sich näherte, steigerte sich meine Aufregung zu richtigem Lampenfieber.
Würde ich die Tänze richtig erkennen? Würde ich meine
Venustänze
korrekt zuordnen können? Oder würde
ich mich vor dem Publikum der
Tanzbühne Köln
blamieren?
Auf der Fahrt nach Köln steigerte sich mein Lampenfieber von Stunde zu Stunde. Es wurde schier unerträglich.
Und da war noch etwas: Erinnerungen stiegen auf an das Tanztraining bei
Keriac
, ihre begnadete Art, uns acht
Stunden täglich trainieren zu lassen, ohne daß jemals jemand einen Muskelkater bekam.
Keriac
's enormes
Wissen über Körperfunktionen, ihre Erfahrung, ihre Strenge, ihr Humor und ihr herzhaftes Lachen. Die
Atmosphäre von Ernsthaftigkeit und gleichzeitiger Lebensfreude, die ihre Trainingsstunden durchzogen.
Die tiefschürfenden Besprechungen unserer Arbeit.
Keriac
's nie endenden Ermunterungen.
Dann der Unfall, der meine gesamte Lebenssituation in Sekunden komplett verändert hatte.
Die Bewegungseinschränkungen. Die Schmerzen. Und all das andere Elend, das daraus folgte.
Die Tanzaufführung, auf die ich damals trainiert hatte, hatte ich mitten im Publikum erlebt. Jetzt würde ich
wieder im Publikum sitzen,
Keriac
und
Donna Perilli
auf der Bühne. Und ein Teil von mir.
Einige meiner
Venustänze
.
Meine Gefühle fuhren Achterbahn, während ich über die Autobahn Richtung Köln raste. Dort angekommen, war
ich mit meinen Nerven am Ende.
Die Anspannung löste sich schlagartig, als
Keriac
zu tanzen begann. Ich wußte sofort, welches meiner Gemälde
gerade zur Aufführung kam. Ohne jeden Zweifel.
Doch dann stockte mir der Atem. Ich konnte nicht nur erkennen, welchen meiner
Venustänze
Keriac
gerade zum
Leben erweckte - ja, ich sah sogar, in welchem Teil der Malerei sich
Keriac
in ihrem Tanz gerade befand.
Unglaublich, aber wahr: Sie schaffte es, der Farbe Sonnengelb eine unmißverständliche Bewegungsabfolge zu geben,
dem Altrosa, Lindgrün, Preußischblau. Dies steigerte sich noch, als auch
Donna Perilli
die Bühne betrat - oder
sollte ich besser sagen: als
Donna Perilli
ins Bild kam - und die beiden großen Tanzkünstlerinnen
interagierten.
Keriac
's und
Donna Perilli
's präziser Ausdruck, ihre eindeutige Körpersprachen, kurz:
ihre
Tanzkunst
liesen
keinen Zweifel. Die Eindeutigkeit ihrer Tanzsprachen verblüffte mich wieder einmal, wie schon so oft zuvor
bei ihren Aufführungen.
Farbe und Klang sind ohnehin das selbe auf unterschiedlichen Frequenzebenen. Nur deshalb konnte
Vassily Kandinsky
seinen Schülern am
Dessauer Bauhaus
Aufgaben stellen wie z.B.: "Malen Sie ein Bild
in Cis-Moll". Darin durfte natürlich kein Sonnengelb vorkommen, sondern allenfalls Zitronengelb,
wenn überhaupt.
Und Tanz ist in Bewegung gebrachter Klang. Insofern ist es eine völlig natürliche Sache, Bilder zu tanzen -
gerade für
Keriac
. Immerhin war
Keriac
selbst diplomierte Bildhauerin und Kunstpädagogin, sowie ausgebildete
Schauspielerin und Theaterregisseurin. Ihre breitgefächerte Ausbildung, ihr Erfahrungsreichtum, das alles
kanalisierte sie in ihrem Tanz der Venus.
Die beiden Tänzerinnen auf der Bühne, deren Tanz, ich selbst, meine Malereien
Venustänze
- alles verschmolz
ganz natürlich zu einer Einheit. Es war ein wunderbar beglückendes Erlebnis, für das ich
Keriac
immer
dankbar sein werde. Ich schwebte auf Wolke sieben in altrosa und lindgrün.
Erst sehr viel später begriff ich, daß diese Aufführung meiner
Venustänze
auf der
Tanzbühne Köln
ein Meilenstein in meiner Genesung war.
Und so lebt
Keriac
weiter in meiner Erinnerung, in meinem Herzen, in meiner Kunst: als die große Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin, die sie war.
Ein wahrhaft großes Vermächtnis.
Text: Claudia Köhler
alle Rechte vorbehalten
23.1.2017
PS.:
Ich wünschte, ich hätte ein Video dieser Aufführung, das ich hier zur Verfügung stellen könnte.